Onkel Erwin
Erwin Munske, Jahrgang 1920, hatte noch eine zwei Jahre jüngere Schwester Dora, genannt Dorle.
Das Berlin zwischen den Weltkriegen ist ein Ort der Kultur und der Lebensfreude ebenso, wie der politischen Auseinandersetzung und des Kampfes um das tägliche Wohlergehen.
Die Inflation zu Beginn des Jahrzehnts und der Schwarze Freitag an seinem Ende markieren wirtschaftliche Einschnitte, die quer durch alle Bevölkerungsschichten geht und auf deren Nährboden die extremen Linken und Rechten aufblühen und in regelrechten Kämpfen aufeinanderprallen.
Die Eltern der beiden Geschwister suchen Arbeit. Und als Arbeiter sind sie dem linken Block zuzuordnen. Sie finden eine Anstellung in der jungen Sowjetunion, folglich ziehen der kleine Erwin und die kleine Dorle nach Stalingrad, das bis 1925 Zaryzin hieß, und das nach 1961 Wolgograd heißen wird.
Von 1929-1934 verbringen sie ihre Kindheit dort, lernen Russisch.
Weil Deutsche, ist ihre Familie privilegiert und muss, anders als die russischen Familien, nicht hungern.
Erwin lernt nicht nur in der Wolga schwimmen, sondern als zwölfjähriger versucht er mit einem Freund den Strom zu durchqueren. – Der Versuch endet für ihn beinah tödlich, denn er unterschätzt die Breite des Flusses – beinahe 6 Kilometer – in seinem jugendlichen Leichtsinn.
1934 will die Familie zurück nach Deutschland. Der neue Reichskanzler Adolf Hitler verspricht allen Lohn und Arbeit. Und obendrein ist die Heimat eben doch in Berlin. – Viele wollen heim.
Die Gruppe der reisewilligen Deutschen wird in einen dunklen Raum geführt. Dort liegt eine Kartoffel unter Glas. Um ihnen Angst zu machen und sie von der Rückkehr abzuhalten, erklärt man: „Wenn ihr nach Deutschland zurückkehrt, werdet ihr hungern! Ihr werdet selbst eine Kartoffel nur noch im Museum zu sehen bekommen!“
Die Eisenbahnfahrt von Stalingrad aus geht im Güterwagen vonstatten. Es ist Winter. Es ist kalt. Immer wieder werden die Waggons mitten in der Landschaft abgestellt und für viele, viele Stunden ohne ersichtlichen Grund stehen gelassen. Dann geht es ohne Vorwarnung weiter. Die „Bahnfahrt“ dauert beinahe zwei Wochen.
Erwin ist ein guter Schüler und will studieren. Doch der Krieg kommt ihm dazwischen.
Er wird Oberleutnant bei der Luftwaffe. In der berüchtigten „Stuka“ (JU 87) ist er Bordkanonier, also stürzt er rückwärts gen Erdboden. Da er das nicht verträgt, wird er Pilot auf einer Heinkel, den Typ weiß ich nicht mehr.
Er fliegt eine Focke-Wulf FW 190 Nachtjäger und die vorletzte „Tante JU“ aus dem Kessel von Stalingrad. Mit Verletzten schon überladen, muss er den Vogel hochziehen und sieht, wie sich hunderte darum balgen und in seine Startbahn rennen, um doch noch irgendwie „raus“ zu kommen.
In der Nachkriegszeit sind die Russischkenntnisse von Dorle und Erwin von großem Nutzen. Sie werden als Dolmetscher von den Alliierten eingesetzt und bekommen dafür schon mal hie und da eine Tafel Schokolade oder eine Schachtel Zigaretten zugesteckt. Auch rettet Dorle die eine oder andere junge Frau vor Übergriffen der russischen Soldaten. Die kleine Dorle kann nämlich schimpfen wie ein russischer Offizier.
Erwin studiert und wird Ingenieur.
Seine Mutter und seine Schwester leben in Westberlin, er selbst mit Frau und Sohn Uwe in Ost-Berlin, als am Morgen des 13. August 1961 die Maurer auftauchen und der Stacheldrahtzaun in einer Nacht- und Nebelaktion schon gezogen ist.
Erwin und seine Mutter treffen sich in einer Straße, wollen sich die Hand zur Begrüßung reichen, über den Drahtzaun hinweg. Da hält ein kaum 20-jähriger Grenzsoldat das Gewehr zwischen die beiden und blafft im Befehlston: „Nehmen Sie die Hand da weg, sonst mache ich von der Schusswaffe Gebrauch!“
Erwins Freude ist sein Sohn Uwe, später sind es die beiden Enkel. Doch sein Leuchtstern, sein Kompass im Leben, seine Richtschnur ist und bleibt über mehr als fünf Jahrzehnte Rosl, seine Ehefrau.
Als sie im Jahr der Wiedervereinigung 1990 stirbt, fehlt Erwin diese Richtschnur. Es zieht ihm schier den Boden unter den Füßen weg.
Und er, der quasi alles erlebt hat, Krieg, Hunger, Mauerbau und auch Mauerfall, und der alles überlebt hat und der auch viele Sonnentage im Leben hatte, der findet keinen Sinn mehr im Leben. Binnen eines Jahres ergibt er sich komplett dem Alkohol und kommt zu Tode.
Der Verlust seiner Rosl nach 55 Jahren war ihm zu viel.